Über die Entstehung des Kinderhauses

Referat von Petra Kruse

am 4. März 1975

Wenn wir bis an das Fundament unseres Kinderhauses vorstoßen wollen, treffen wir auf das „Experiment Worpswede“, und ich will es kurz erläutern:
Wir befinden uns im Herbst 1970:

 

Der Schriftsteller und Zukunftsforscher Dr. Robert Jungk erarbeitete mit Worpswedern, d. h. sie entwickelten einen Plan für ein neues, zukunftsträchtiges Gemeinwesen am Weyerberg, das wohlmöglich Modellcharakter für andere Gemeinden haben würde. Worpswede schien für dieses Experiment besonders geeignet aufgrund seiner spezifischen soziologischen Struktur. Zudem drohte für den Weyerberg die Gefahr der Zersiedelung – so glaubte man – besonders im Hinblick auf die Neugründung der Bremer Uni, denn man beurteilte Worpswede als attraktiven Einzugsbereich. Es wurden verschiedene Arbeitskreise gebildet, und so befasste sich z. B. die Gruppe „Architektur“ mit der Planung eines Wohnhügels mit terrassenförmiger Struktur, so dass das Flachdach des unten Wohnenden als Garten des darüber Wohnenden diente, dabei bepflanzt bis zu Baumhöhe, so dass der aus lauter Häusern bestehende Wohnhügel von außen und von den Bewohnern selbst betrachtet, grün, also „Natur“ wäre. Dieser Wohnhügel hat keine Straßen, eher Gassen, Treppchen, Aufzüge (Autos parken unter dem Hügel), Läden, Ärzte – und Anwaltspraxen, ein sehr umfangreiches Kommunikationszentrum mit Schwimmhalle, Sportplatz, Kino und Theater, evtl. Schule, bestimmt aber Vorschule, und natürlich einem Kindergarten. Neben der Gruppe „Architektur“ bildeten sich die Arbeitskreise „Umweltschutz“, „Kommunikation“, „Pädagogik“ usw., und aus der Gruppe, die sich also von Stund an mit einer der wichtigsten Zukunftsaufgaben befasste, nämlich der Einrichtung eines Kinderspielkreises, hat sich unser „Kinderhaus“ rekrutiert – übrigens die einzige Gruppe, die Bestand haben sollte. Wir sehen also die Bürgerinitiative, die unser „Kinderhaus“ ins Leben rief, im Rahmen des „Experimentes Worpswede“. In diesem Gesamtzusammenhang wurde betont, „dass zur angestrebten Veränderung der Worpsweder Gesellschaft eine neue Bewusstseinsbildung unerlässlich sein werde“. An dieser Stelle werden wohlmöglich einige der neuen Mütter unruhig werden, unruhig darüber, wie scheinbar politisch der planerische Ansatz zu unserem Kinderhaus war. Ich betone „scheinbar“, möchte aber dennoch heute Abend ein wenig geistige Unruhe schaffen. Als Exkurs scheint mir daher wichtig, kurz zu skizzieren, wie damals vergleichbare Bürgerinitiativen in der BRD aussahen. Natürlich muss sich von den 30 – 40 „Kinderläden“ in der BRD und Berlins ausgehen, wenngleich wir ja keinen „Kinderladen“ wollten und haben, aber Denkanstöße, was die pädagogischen Inhalte anbelangte, durchaus bis an die Ostflanke des Weyerbergs spürbar waren, wo sich im Herbst 1970 in einem Nebengebäude des „Barkenhoffs“ unser Kinderhaus entwickelte.

 

Zitat: Anfang `68 haben die ersten jungen Eltern – überwiegend Akademiker und Studenten – eigene Kindergärten organisiert. Weil sie dafür meistens leerstehende Läden mieteten ... gaben sie ihnen den Namen „Kinderläden“ (allein in Berlin waren es 12). Wir hingegen – und nicht nur Akademiker und Studenten – mieteten wie gesagt einen Raum beim „Barkenhoff“, fanden aber die Bezeichnung „Kinderhaus“ passender, als etwa „Kinderstall“ oder „Kinderschuppen“. Die anfangs angewandte Methode des „laissez-faire“ haben jene Eltern und wir bald wieder aufgegeben. Man erkannte, dass man Kinder nicht völlig sich selbst überlassen darf, sondern dass sie der Anregung durch Erwachsene bedürfen, beim Spiel ebenso wie beim Zusammenleben in der Gruppe. Heute wissen wir, dass „antiautoritäre“ Erziehung nichts mit Zügel- und Richtungslosigkeit zu tun hat. Konnten wir das, können wir das heute noch auf unsere Fahne schreiben? Ich bitte zu unterscheiden: Revolution und Erziehung heißt für uns nicht Erziehung zur Revolution.

 

Zitat: So sahen Kinder vor 50 Jahren aus: „Ein Mensch, der nicht geschunden wird, wird nicht erzogen“ hieß es schon bei den alten Griechen. Die meisten von uns glauben bis heute, eine strenge Erziehung sei eine gute Erziehung. Die vollständige Unterwerfung des Kindes unter die Macht des Erwachsenen gilt vielen noch als Selbstverständlich. Gehorsam, Ruhe, Ordnung und Sauberkeit gelten immer noch als die wichtigsten Tugenden eines Kindes. Sigmund Freud erkannte, dass solche Erziehung Kindern nicht nützt, sondern schadet... Ferner: Die Erzieher und Eltern wollten vermeiden, dass die Kinder zu „autoritären“ Charakteren erzogen werden ..., d. h. zu autoritätsabhängigen „Radfahrertypen“, die nach oben buckeln und nach unten treten. Es wurde also gegen Autoritätsabhängigkeit, Hörigkeit, Sehnsucht oder gar Süchtigkeit erzogen. Ein weiteres, wichtiges Element freier Erziehung ist die Selbstregulierung, d. h. das Kind soll in jedem Alter und auf allen Lebensgebieten (wie Essen, Schlafen, Sexualität, Sozialverhalten, Spielen, Lernen usw.) seine Bedürfnisse frei äußern und selbst regulieren können. Wie schwer das für Eltern ist, wissen wir inzwischen. Ein sich selbst regulierendes Kind ist kein sich selbst überlassenes Kind im Sinne des „laissez-faire-Stils“. Häufig werden von Kritikern des Prinzips der Selbstregulierung Bedenken geäußert, dass diese Freiheit in chaotische Freiheit umschlage, in Zügellosigkeit und Hemmungslosigkeit der Bedürfnisse – kurz: in Tyrannei des Kindes. Ein tyrannisches Kind aber ist kein freies Kind, es ist ein zwanghaftes, unfreies Kind. Ein Kind, das „hemmungslose“ unstillbare Bedürfnisse äußert und nicht zufrieden zu stellen ist, ist ein unglückliches, gestörtes, krankes Kind, dessen Bedürfnisse nach Liebe und Zuwendung nicht oder mangelhaft gestillt werden oder in vorausgegangenen Phasen vernachlässigt wurden, und das nun das Gefühl hat, „zu kurz zu kommen“. Diese wenigen Überlegungen stehen für eine Kette vieler grundsätzlicher Überlegungen, die wir einstmals begonnen hatten zu schmieden. Und wir sollten uns die Frage stellen, ob wir heute eigentlich immer noch an derselben Kette arbeiten, oder ob wir eine neue angefangen haben.

 

Ich fasse zusammen:
Während oder besser nachdem in der BRD und Berlin eine Reihe von „Kindergärten“ durch Bürgerinitiative gegründet worden waren, um einige namenhafte zu nennen

 

1) die „Kinderschule“ in Frankfurt durch den „Verein für angewandte Sozialpädagogik“, der seinerseits im Sept. `67 gegründet worden war, welche Schule auf den Erkenntnissen der Psychoanalyse aufbaute,

 

2) die „Aktion Vorschulerziehung e. V.“ in Stuttgart, gegründet im Jan. `68 und

 

3) der „Sozialistische Kinderladen Berlin Kreuzberg“, gegründet im Frühjahr `68, der neben anderen Berliner Kinderläden aus der linken Studentenbewegung während der Vorbereitung der großen Vietnamdemonstrationen in Berlin im Jan. `68 entstand und eine Entwicklung vom antiautären Erziehungsversuch zur sozialistischen Vorschulerziehung darstellte ...

 

... und während wir uns auf Alexander S. Neills`s Summerhill`Erfahrungsbericht stürzten, von dem sich die Kinderläden distanzierten:

 

Zitat: Anders als dem Gründer der repressionsfreien Internatsschule „Summerhill“, Alexander S. Neill, dem es nur um Freiheit, Glück und psychische Gesundheit des einzelnen Kindes geht, kommt es den „Kinderläden“ nicht nur auf das Individuum und seine Glücksfähigkeit und Mündigkeit an, ihnen geht es ebenso um Gesellschaft und Staat.

 

Freiheit, Glück und psychische Gesundheit nämlich – davon sind die Kinderläden überzeugt – sind dauerhaft nur in einer neuen, anderen Gesellschaft möglich, für die es noch kein Vorbild gibt ...

 

... Während also all dies geschah und gedacht wurde, gründeten wir Wahlworpsweder unser namenhaftes „Kinderhaus“ ohne diesen gesellschaftspolitischen Anspruch, ohne die Anmaßung, psychotherapeutisch wirksam sein zu wollen, sondern in dem Bestreben, einmal ganz praktisch der Kindergartenmisere in Worpswede beizukommen, zum anderen mit dem inhaltlichen Ziel, so liberal wie möglich und als Kreis offen die ganz spezifischen Bedürfnisse unserer Kinder zu erkennen und zu berücksichtigen und sie so frei wie möglich wachsen und spielerisch Umwelterfahrungen machen zu lassen, sie und uns in der Vorschulerziehung nicht dem Leistungsdruck auszusetzen, sie also möglichst früh im Lesen, Schreiben und Rechnen zu perfektionieren, kurz: sie möglichst ohne Manipulation und ohne jede Art von Indoktrination ein Stückchen auf ihrem Lebensweg zu begleiten.

 

Wir versuchten, die pädagogische Auffassung der Elternhäuser und der des „Kinderhauses“ zu koordinieren, was schwierig ist, und wir einigten uns immer wieder auf die liberale Auffassung, auch, was die Weltanschauungen oder die Einstellung zur Religiosität betraf. Es sollte möglichst wenig Verbindlichkeiten geben. Als Kreis offen zu sein war für uns ebenso wichtig. Wir wollten keinen Privatclub Gleichgesinnter, wohlmöglich nur Akademiker, die sich gegenseitig ihre Kinder hüten, sondern offen sein für sozial schwächere Familien, von denen nicht einmal ein Elternteil bei der Kinderhausarbeit mithelfen konnte aus eigener Arbeitsüberlastung.

 

Bilanz: es kräht kein Hahn mehr nach den „Kinderläden“. Wir aber sitzen hier beisammen und sollten uns freuen über den Bestand, den unser „Kinderhaus“ hat, das so scheinbar „unprofiliert“ dasteht. Wir sollten aber erkennen, dass wir bei aller Liberalität und ohne politisch sein zu wollen, mit allem, was wir tun und was wir lassen, politisch sind. Wir sollten daher nicht aufhören oder besser wieder anfangen, uns Gedanken über pädagogische Inhalte zu machen – die äußere Organisation kann besser nicht sein als sie im Augenblick ist. Aus dem Kreis der neuen Mütter sind unüberhörbar Stimmen laut geworden, die eine eindeutigere Haltung, z. B. zur Religion fordern. Wir müssen das diskutieren! Stimmen auch, die altes Kulturgut in Form von Märchen und Sagen, in Form von biblischer Geschichte fordern. Wir müssen das diskutieren!

 

Und wenn die Freude der „alten Hasen“ heute etwas geteilt sein sollte, so schreibe ich das dem Umstand zu, dass die Pionierszeit immer die schönste ist, weil sie existentiell und am intensivsten erlebt wird, weil jeder Anfang eine neue Hoffnung birgt.

 

Literatur:
1. „Erziehung zum Ungehorsam“ hrsg. v. Gerhard Bott, März – Vlg.
(Kinderläden berichten aus der Praxis der antiautoritären Erziehung)

2. „Kinderläden“ hrsg. v. Freimut Duve
(Revolution der Erziehung oder Erziehung zur Revolution)